Karl Ove Knausgård und seine Ästhetik des Infantilismus (2024)

Karl Ove Knausgårds megaloman-experimentelles Selbstentblössungsprojekt «Mein Kampf» ist ein Welterfolg, doch reitet es den autobiografischen Roman zuschanden. Beides entspringt einem naiv-sentimentalen Literaturverständnis.

Andreas Breitenstein

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Karl Ove Knausgård und seine Ästhetik des Infantilismus (1)

Was eigentlich ist Literatur? – Die Frage öffnet ein mehr als weites Feld, aber um hier knapp zu bleiben: Formal prozesshaft gesehen ist Literatur eine Form von Transzendenz. Menschen und Dinge, die darin zur Sprache kommen, verwandeln sich und beginnen ein Eigenleben zu führen. Als Motor dazu kann vieles dienen: Findung und Erfindung, Verdichtung und Vernetzung, Verfremdung und Verbergung, Verklärung und Vernichtung, Zuordnung und Zuspitzung, Überformung und Übertreibung, Überraschung und Überschreitung, Vision und Konstruktion, Innovation und Destruktion – kaum je gleichzeitig, aber stets vermengt und nicht selten in paradoxaler Mischung.

Verwandlung ist das, was in den autobiografischen Romanen der Hexalogie «Min Kamp» («Mein Kampf», 2009–2011) von Karl Ove Knausgård nicht stattfindet und auch nicht stattfinden soll. Was sie stattdessen als Literatur postulieren, ist schriftstellerische Authentizität. Der 1968 geborene norwegische Autor begreift sein Schreiben als radikal-experimentelle Methode , die Tatsachen und Meinungen, Stimmungen und Gefühle des eigenen Lebens mittels ungebändigter Nacherzählung, intimster Schilderung und penibler Detailtreue so unmittelbar wie möglich zu fassen. Nicht Distanz, sondern Nähe, nicht Mehrdeutigkeit, sondern Eindeutigkeit, nicht innere Wahrheit, sondern Faktizität erscheint ihm als Königsweg der Selbsterkenntnis. Deshalb greift er auch nur auf die konventionellen literarischen Mittel von Realismus, Ich-Bericht und Chronologie zurück. «Wie weit kann ich gehen», so beschreibt Knausgård selber die Versuchsanordnung seines Selbstentblössungsprojekts, «ohne eine Geschichte erzählen zu müssen, bevor sich das Ganze auflöst und unlesbar wird?»

Erfolgreiches Hasardspiel

Erzählen, wie es gewesen ist – als ob solches möglich wäre. Noch der platteste Realismus ist ein Stilmittel, und selbst bei der rückhaltlosesten Aufrichtigkeit handelt es sich um Wahrheitsfiktion. Alle Auswahl von Stoff folgt der Logik von Dramaturgie und Komposition. Sodann ist die Einheit des Individuums, die das Erzählen trägt, eine Erfindung – dass das Ich durch die Spiegelung (der Spiegelung) im Gegenüber ein Anderer ist oder auch in sich selber zerfällt, ist ein unhintergehbarer Gemeinplatz der Moderne. Müsste man meinen . . . Kann es also gutgehen, in planvoller Abkehr von der Logik literarischer Transzendenz und den Anforderungen zeitgemässer Ästhetik einen fast 5000 Seiten umfassenden radikalen Bekenntnisroman aus dem Geist des Protestantismus zu verfassen, der als Kunst durchgehen soll?

Es kann, wenn man der Rezeption glaubt: Knausgårds Hasardspiel mit der Anti-Literatur ist voll aufgegangen. Ob es nun der durch Tabubrüche ausgelöste Voyeurismus oder die Faszination durch den kruden Stoff war – schnell wurden seine Romane in Norwegen zu Bestsellern. Mittlerweile hat sich auch in den USA eine Fan-Gemeinde gefunden , die auf die narkotische Wirkung dieser Prosa schwört. Darüber spät erwacht, hat sich die deutschsprachige Literaturkritik der Euphorie auf breiter Front angeschlossen. Gelobt werden die Intensität, die Radikalität und die Hellsichtigkeit des Autors. In «Min Kamp» habe die Sehnsucht der Epoche nach dem richtigen, intensiv gelebten Leben ihren gültigen Ausdruck gefunden.

Vor kurzem ist der fünfte Band der Hexalogie auf Deutsch erschienen – mit einem Stoff, von dem her es sich anbietet, den Wert von Knausgårds Projekt zu überprüfen. «Träumen» behandelt des Autors Sturm-und-Drang-, Studien- und Lehrjahre in Bergen während der achtziger und neunziger Jahre, seine Ablösung von der Familie und den Versuch, eigenen Boden unter die Füsse zu kriegen. Weiter erzählt es von Freundschaften, Liebschaften und (scheiternder) Ehe; von Büchern, Bands und Schallplatten; von kleinen Fluchten, Gelegenheitsjobs und Alkoholexzessen. Über allem aber steht der durchdringende Wunsch, ein Schriftsteller zu werden – was am Ende nach langem Leiden und Zagen, Hoffen und Verzweifeln mit einem umjubelten Romandebüt 1998 doch noch gelingt.

Nun – die Lektüre von «Träumen» fasziniert zunächst, erweist sich dann aber als banal, repetitiv und ertraglos. Da ist die Heimreise des 19-jährigen Griechenland-Trampers Karl Ove von Wien ganz ohne Geld; die Sehnsucht nach Ingvild, die sich ihm brieflich versprochen zu haben scheint; die Nähe zum älteren Bruder Yngve, der ihm zur Stütze des Lebens wird; der Eintritt des Jünglings in die Bergener Bohème. Da sind die Geldknappheit und die Gier nach dem erotischen Abenteuer hinter der nächsten Ecke; die Entdeckung der Onanie und die Trennung von Ingvild nach deren Liebesverrat; die Aufnahme in die berühmte Akademie für Schreibkunst (wo auch Jon Fosse lehrt) und das Scheitern; das planlose Literaturstudium, das dilettantische Musizieren (als Schlagzeuger) und der ewig unerfüllte Traum vom Schreibenkönnen. Da ist die Melange aus Ehrgeiz und Selbstzweifel, Grössenwahn und Scham; das ständige Name-Dropping von Autoren, Büchern und Bands, die er verehrt; schliesslich die kollektive Sauferei und der damit verbundene destruktive Raptus sowie die schwierige Beziehung zur Familie mit der bitteren Mutter, dem trinkenden asozialen Vater (beide seit langem getrennt) sowie den auf dem Land aus der Zeit herausgefallenen Grosseltern.

Daneben finden sich ansprechende Stadt- und lyrische Naturschilderungen (ständig bei Regen) sowie eher schlichte essayistische und poetologische Sequenzen. Die Dialoge sind von unausgesuchter alltagssprachlicher Banalität. Flach bleiben Beschreibung und Erzählung, und wo sie ambitioniert werden, entgleisen sie oft. «Der hellen Sommernacht war eine Tiefe eigen, die nicht greifbar war, aber dennoch unverkennbar existierte», liest man etwa. Oder: «Ich rief Mutter an. Wir sprachen erst über Begebenheiten in meinem Leben, will sagen, was alles in der Akademie passiert war, danach über die Begebenheiten in ihrem.» Einprägsame Figuren sucht man ebenso vergeblich wie epiphanische Augenblicke. Hier wird ein Autor hochgejubelt, dessen sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten, gestalterische Fähigkeiten und intellektuelle Möglichkeiten weit überschätzt werden.

Nichts geht unter die Haut

Verblüffend genau findet sich vieles wieder, was man um die zwanzig selbst einmal gefühlt und gedacht hat. Die eigene Herzensbildung im Generationenraster wiederzuerleben, ist nicht ohne sentimentalen Reiz, doch wenn man merkt, dass Karl Ove doch immer nur über Karl Ove spricht, verflüchtigt sich das identifikatorische Interesse. Nicht nur Triviales wie das Teetrinken und Zigarettenrauchen beginnt zu nerven, auch das Persönliche dreht sich im Kreis. Dabei ist nicht die Sinnwüste des spätpubertären Daseins das Problem, sondern dass sich daraus nichts Weiteres ergibt.

Knausgård selbst würde all diese Mängel gar nicht bestreiten, denn sein Kunstkonzept ist die Anti-Kunst . Welthaltig ist sein Schreiben trotz der Stofffülle nicht – auf sich selbst fixiert, tigert er im Vorhof der Literatur herum. Denn noch der in die Jahre gekommene Autor hat das Problem nicht gelöst, von dem «Träumen» handelt – nichts erfinden und mit seiner planen Art des Erzählens keine symbolischen Prozesse auslösen zu können. Eben daran scheiterte der 19-Jährige an der Schreibakademie. Wo sich Knausgård die Fiktion nicht erschliesst, verwirft er sie trotzig lieber ganz. Irgendwann hat er es aufgegeben, den Strom des Schreibens überhaupt noch zu kontrollieren: «Mein Werk dreht sich darum, Begrenzungen loszuwerden, die Scham zu überwinden, frei zu werden.»

Geschickt hat Knausgård aus seiner literarischen Not eine schriftstellerische Schlaumeierei gemacht. Dass er sich mit aufklärerischer, radikalistischer und existenzialistischer Verve aufs angeblich tabuisierte (männliche) Private verlegte, ist aber keine ästhetisch tragende Lösung. Der Versuch, Leben und Schreiben zur Deckung zu bringen, ist hoffnungslos und mündet in eine thematische Endlosschlaufe. «Man kann alles erzählen, nur nicht sein wirkliches Leben», hat Max Frisch einst geschrieben. Es war der Zweifel am eigenen Spiegelbild, der ihn «Geschichten wie Kleider» anprobieren liess. Erst indem er sein Leben in ein komplexes Spiel von Exhibitionismus und Scham auflöste, vermochte er es in Literatur zu verwandeln.

Wie wenig Knausgård aus seinem Stoff zu machen weiss, zeigt die Persönlichkeitsspaltung des 20-Jährigen zwischen Biedermann und Berserker, die er zwar wiederkehrend wortreich beschreibt, für die er aber keine innere Form findet. Gern glaubt man ihm die solipsistische Not und auch die Ekstasen der Verzweiflung – nur unter die Haut gehen sie nicht. Da nützt es auch nichts, wenn er Hamsuns Roman «Hunger» gelesen hat, in dem das autobiografisch grundierte Drama eines jungen Mannes als unbegabter Schriftsteller unerbittlich durchexerziert wird. Es paart sich dort das Dämonische mit dem Grotesken, zusätzlich schiessen Komik und (Selbst-)Ironie ein – etwas, was Knausgård völlig abgeht. Was die Wahrnehmung menschlicher Abgründe betrifft, ist «Träumen» weitgehend laue Luft. Ein Freund, dem Karl Ove den Entwurf eines Buches zum Lesen gibt, fragt sich, ob er nicht einen «Jugendroman» verfasst habe – genau das bringt es ziemlich gut auf den Punkt.

Es ist kein Zufall, dass grosse Autoren ihre Autobiografie bis zum Schluss aufsparen, wohl weil sie wissen, dass es das Schwerste ist und es die Erfahrung eines ganzen Schreiblebens braucht, um sich nicht in den Schlingen des Selbsterfahrungsschreibens zu verheddern. Exemplarisch dafür steht Per Olov Enquist, der sich in «Ein anderes Leben» dialogisch-tastend einer Selbsterforschung unterzieht, welche die Geheimnisse der Existenz zugleich versiegelt und offenbart. Entstanden ist ein subtiles und aufwühlendes Bekenntnisbuch in der Tradition der pietistischen Lebensbeichte, das bei aller Härte etwas Heiteres hat. Um Distanz zu gewinnen und den Geständniszwang zu brechen, hat Enquist sein Ich in die dritte Person enthoben. Die Nähe zum Roman dient der inneren Wahrheit, denn Erinnerung ist immer auch Erfindung.

Was ist daraus in Bezug auf Knausgård zu lernen? Zunächst, dass, weil ihm eingestandenermassen die fiktionalen Mittel der Verschiebung, der Verfremdung und Verdichtung fehlen, sein Versuch, das eigene Leben zu fassen, diesem Leben äusserlich bleiben muss. Diesen Mangel mit Verismus wettmachen zu wollen, ist ein Missverständnis – existenzielle Wahrhaftigkeit speist sich nicht aus der Überfülle von Fakten und nicht aus echtzeitlicher Intimität. Im Gegenteil sind die «richtigen Kunstwerke (. . .) hohl», wie es bei Enquist heisst, damit die Phantasie der Leser sich daran festkrallen und das Werk jene Vieldeutigkeit entwickeln kann, die es bestenfalls über Epochen weiterträgt.

Was aber bleibt zum Breitenerfolg eines Werkes zu sagen, das mit revolutionärer Attitüde die Umwertung aller hochliterarischen Werte betreibt? Dass der Autor aus seinem Scheitern selbstbewusst eine Methode zu machen versteht, ist das eine, das andere aber ein Publikum, welches die Dürftigkeit des Gebotenen nicht nur goutiert, sondern sich davon sogar betören lässt. Natürlich kann man hier die schöne Theorie entwickeln, dass die Menschen in einer zunehmend virtuellen Wirklichkeit nach der Tiefe des realen Daseins dürsten und gerne auf ein Dasein blicken, das genauso banal und unerfüllt ist wie ihr eigenes. Darauf immerhin lässt die Bereitschaft zu einer suchtähnlichen Lektüre Tausender von Seiten schliessen, die wesentlich auf Identifikation und Voyeurismus beruht.

Dieses naiv-sentimentale Literaturverständnis nährt aber auch den Verdacht, dass es mit der kulturellen Bildung nicht mehr gut bestellt ist. Literatur und Kunst, die komplex sein soll, braucht den in Verstehen und Denken geschulten Rezipienten. Ein Debakel ist es, wenn selbst der Literaturkritik immer mehr das Sensorium dafür abgeht, was welt-, sinn- und werthaltig ist und was nicht.

Vielleicht spiegelt Knausgårds kühne Ästhetik der Mutlosigkeit ja exemplarisch die Misere unserer biedermeierlichen Epoche, der nicht nur der Himmel, sondern auch die Zukunft verschlossen ist. Wo es einem am besten geht, wenn man sich «wohl fühlt», wird Andersheit nicht als Utopie, sondern als Zumutung empfunden. Es fehlt die Bereitschaft zur Neugier und zur Phantasie, zur Frustration und zur Anstrengung, sich auf etwas einzulassen, was sperrig ist und weh tut. Doch Kunst ist keine Mode, kein Kinderkram und kein Schaumbad – was oft genug aus Schmerz entsteht, will auch im Zeichen des Schmerzes weitergetragen sein. Wenn Literatur die Horizonte des Daseins weiter aufreissen soll, muss der Umgang mit ihr existenziell und intellektuell bleiben. Der Inhaltismus – so lehrt uns der Fall Knausgård – ist ein Infantilismus.

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